Biodiversität Achtung, Natur im Westfield Hamburg-Überseequartier. Für Fachleute wie Dr. Martine Marchand bieten sich deren Flachdächer als Biotope für Artenvielfalt an
Woran denken Sie spontan, wenn Ihnen die Begriffe Färberkamille, Karthäuser-Nelke, Berg-Lauch, Salbei oder Habichtskraut begegnen? Vielleicht an wild wachsende Biotope, die den regelmäßig seinen Rasen mähenden Nachbarn mit ihrer Artenvielfalt von Flora und Fauna zur Verzweiflung treiben. Dabei sind dies Nelkenarten, Korbblütler, Storchschnabel und Trockengräser, die ab Herbst 2023 die zahlreichen eher trockenen Flachdächer des Westfield Hamburg-Überseequartiers bevölkern werden. Und nicht zu vergessen die „Trockenspezialisten“, die sukkulenten Pflanzen „wie Mauerpfeffer- und Dachwurz-Arten, Sedum und Sempervivum, die in ihren fleischigen Blattorganen große Wassermengen speichern können“, so die Diplombiologin Dr. Martine Marchand, die sich seit 2016 mit der Bearbeitung der ökologischen Grund-lagen für die Zertifizierung des südlichen Überseequartiers nach dem BREEAM-System befasst.
BREEAM ist ein britisches Nachhaltigkeitszertifikat und steht für Building Research Establishment Environmental Assessment Method. Es ist das älteste und am weitesten verbreitete Zertifizierungssystem für nachhaltiges Bauen, das schon 1990 in Großbritannien entwickelt wurde. BREEAM vergibt nach einem einfachen Punktesystem in zehn Beurteilungskategorien ein Gütesiegel in sechs Abstufungen. Die Kriterien berücksichtigen Auswirkungen auf globaler, regionaler, lokaler und innenräumlicher Ebene und umfassen Kategorien wie zum Beispiel Energie, Wasser oder Landverbrauch sowie Gesundheit und Wohlbefinden. Nach einer Novellierung wird inzwischen der gesamte Lebenszyklus zum Beispiel von Neubauten wie dem Westfield Hamburg-Überseequartier berücksichtigt, dazu gehört auch eine veränderte, stärkere Gewichtung der Umweltauswirkungen.
Diplom-Biologin Dr. rer. nat. Martine Marchand, selbstständige Gutachterin und unter anderem als Projektleiterin für das Landschaftsplanungsbüro leguan GmbH tätig, befasst sich seit 2016 mit der Bearbeitung der ökologischen Grundlagen für die Zertifizierung des Westfield Hamburg-Überseequartiers nach dem britischen Nachhaltigkeitszertifikat BREEAM. © PRIVAT
„Bei Flachdächern müssen die Arten trotz des reduzierten Wurzelraums vital bleiben. Bei einschichtiger Begrünung werden überwiegend unterschiedliche Moose und Sukkulenten verwendet, sogenannte Sedum-Teppiche.“
Martine Marchand kennt das Thema Biodiversität und Nachhaltigkeit aus dem Effeff. Hat sie doch schon 1985 in ihrem Biologie-Diplom über „Untersuchungen zur Ökologie der Libellen aus-gewählter niedersächsischer Tümpel“ gearbeitet und in ihrer Dissertation zur Dr. rer. nat., zur Doktorin der Naturwissenschaften, die „Pionierbesiedlung terrestrischer und limnischer Habitate eines Bodenabbaugebietes … mit besonderer Berücksichtigung der Biologie und der Ökologie der Gelbbauchunke“ untersucht. Ihre früh erworbene Nachhaltigkeits- und Biotope-Kompetenz machte die in Paris geborene selbstständige Gutachterin mit Standort Bremen unter anderem zu einer begehrten Flora- und Faunaberaterin für Bauprojekte. Sie ist nicht nur Expertin für terrestrische (bodenlebende) und aquatische (wasserlebende) wirbellose Tiere (Käfer, Bienen, Wespen, Hummeln, Heuschrecken), sondern ist auch auf Gutachten zur Umsetzung Europäischer Naturschutzrichtlinien im Rahmen von Bauvorhaben spezialisiert. Dass neben den klassischen BREEAM-Nachhaltigkeitskategorien wie Verschmutzung, Material, Abfall und Innovation auch eine biodiverse Verantwortlichkeit beim Investor Unibail-Rodamco-Westfield (URW) mit auf der Bautagesordnung des Überseequartiers steht, ist für Dirk Hünerbein, URW-Director of Development Austria & Germany, kein grünes Ökomäntelchen, sondern ein selbstbewusstes strategisches Ziel. „Es ist heute nicht mehr zu verantworten“, so Hünerbein, „ein Quartier zu entwickeln, das nicht auch die Interessen und die Lebensqualität zukünftiger Generationen berücksichtigt. Zu den Aspekten der hierzu 2015 entwickelten Unternehmensstrategie ,Better Places 2030‘ von Unibail-Rodamco-Westfield gehören unter anderem die Förderungen der Artenvielfalt von Flora und Fauna, der sorgsame Umgang mit Ressourcen sowie die Schaffung angenehmer Lebensbedingungen. Das ist für uns kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.“
Auch für die Landschaftsarchitektin Prof. Antje Stokman von der HafenCity Universität Hamburg (HCU) werden Biotope in aktuellen Nachhaltigkeitsstrategien für dicht besiedelte, urbane Räume immer wichtiger. „Biodiversität in Städten bekommt Aufwind“, sagt die Lehrstuhlinhaberin für Landschaftsarchitektur an der HCU im Gespräch mit der HafenCity Zeitung. Und das Westfield Hamburg-Überseequartier passt in die biodiverse Inselstrategie von Stokman: „Bestimmte Tier arten können solche kleinteilig in der Stadt verstreuten Biotope als ,Trittsteine‘ nutzen, um durch die Stadt zu wandern. Es braucht in der Stadt natürliche Lebensräume, die vielfältige Funktionen für Flora und Fauna erfüllen. In der HafenCity geht es nicht darum, riesige Ökoflächen zu schaffen, sondern eher viele punktuelle und vernetzte Strukturen zu bilden.“ So kann das südliche Überseequartier trotz aller Bau- und Betonpräsenz ein wichtiger Mosaikstein im Konzept für Biodiversität in der HafenCity werden.
„Zu unserer Unternehmensstrategie ,Better Places 2030‘ gehört unter anderem die Förderung der Artenvielfalt von Flora und Fauna. Das ist für uns kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.“ Dirk Hünerbein, Director of Development Austria & Germany, Unibail-Rodamco-Westfield
Stokmans „Trittsteine“, wie zum Beispiel der Lohse- und Baakenpark, das „Grau trifft Grün“-Konzept im Oberhafen oder die gezielt biodivers angelegten Uferböschungen an Fleeten könnten mit den Bepflanzungen und Tieransiedlungen auf den zahlreichen weitläufigen Flachdächern und Indoor-Begrünungen der Gebäude im südlichen Überseequartier einen feinen biodiversen Schwarm der HafenCity-Kultur bilden – allen Verkehrs-und Neubautaten mit CO2-Emissionen zum Trotz.
Dass das Westfield Hamburg-Überseequartier zu früheren Freihafen-Zeiten eine Brache mit Emissionen und Bodenverseuchungen des ehemaligen Gaswerks war, hat Überseequartier-Entwickler Dirk Hünerbein nicht vergessen. „Das Gelände war ein seit Jahrzehnten versiegeltes Industrieareal ohne jeden ökologischen Wert. Und es war der Wunsch der Väter des Masterplans, hier das wirtschaftliche Herz der HafenCity zu errichten, dazu gehören auch Elemente, die die Innenstadt ausmachen. Wir sehen es als unsere notwendige, unverzichtbare Aufgabe, dieses so verträglich wie möglich zu gestalten, und setzen auf die gesetzlich geforderten Maßnahmen noch einiges drauf. Die Zertifizierung nach BREEAM“, so Hünerbein „stellt dabei höchste Ansprüche an uns, und wir streben nichts weniger als eine Zertifizierung im Exzellenz-Standard an.“
Neben den biologischen und ökologischen Einflüssen auf das Zertifizierungsergebnis nach BREEAM sind auch die klassischen Baufolgen wie CO2 Emissionen ein Kriterium. Verantwortlich auf der Überseequartier-Baustelle ist Thomas Kleist, Senior Manager Building Services Engineering bei URW. „Wir verfolgen“, sagt Kleist, „mit unserem ,Better Places 2030‘-Konzept als Bauherr vor allem einen klaren Fahrplan zur CO2-Reduktion.“ Für die Erreichung der von Hünerbein angestrebten besten BREEAM-Kategorie ist unter anderen auch Biologin Martine Marchand verantwortlich. Die Herausforderungen unter anderem für das nachhaltige Grün auf den Dächern der Gebäude des Überseequartiers müssten handwerklich unter dem maritim-rauen und windigen Dauerklima von Elbe, Hafen und HafenCity gezielt entwickelt werden, sagt Marchand: „Die Begrünung auf Flachdächern wird vorwiegend mit Pflanzenarten angelegt, die an Trockenperioden angepasst sind und nach der Anwachsphase nur in extremen Trockensituationen eine Bewässerung brauchen. Es werden Pflanzenarten ausgewählt, die an die besonderen Standortbedingungen wie Trockenheit, hohe Strahlungsintensitäten, Windexposition, Nährstoffarmut und Frostgefahr angepasst sind und die eine hohe Regenerationsfähigkeit haben. Die Arten müssen trotz des reduzierten Wurzelraumes vital bleiben. Bei mehrschichtiger Begrünung kommen Kräuter und Gräser hinzu.“
Dann muss ja nur noch das Mixed-use-Quartier fertig gebaut werden, damit nicht nur Wohnen, Arbeiten, Shoppen und Entertainment losgehen, sondern die fröhliche Artenvielfalt von Flora und Fauna auf den blühenden Flachdachparadiesen mit der Saatgutmischung „Hamburger Naturdach“ sich entwickeln kann. Mauerpfeffer und Dachwurz: Wachsen!
Wolfgang Timpe